




(english version below)
Counting Silence
Caroline Kryzecki ist für ihre Kugelschreiberzeichnungen mit bis zu tausenden von Linien bekannt, die sich in mehreren Schichten oder Rastern überschneiden. Fast ein Jahrzehnt spielte sie dabei alle Möglichkeiten durch, von extrem reduzierten monochromen Arbeiten mit nur wenigen übereinander gelegten Rastern bis hin zu Zeichnungen, die fast anmuten wie Malerei. Mit ihren teils monumentalen Arbeiten in einer Größe von bis zu 270x190cm lotet die Künstlerin Grenzen aus, körperliche, psychische und die des Materials. Dabei steht für Kryzecki immer der Arbeitsprozess im Vordergrund. Ideen werden im Prozess geboren und in gewisser Hinsicht entstehen die Arbeiten aus sich selbst heraus. Kryzecki setzt sich Regeln, begibt sich in Strukturen und findet darin Freiheit.
Die Zeichnungen mit horizontalen und vertikalen Linien haben oft eine textile Anmutung. Seit Jahren befasst sich Kryzecki mit Weberei. Die Weberei ist interessant für die Künstlerin, weil auch die Technik des Webens auf der Grundlage von Rastern funktioniert. Zwei Fadensysteme werden rechtwinklig gekreuzt. Aber nicht nur strukturell, auch phänomenologisch gibt es Analogien, weil manche Kugelschreiberzeichnungen aussehen wie digital konzipiert, und die Weberei ein frühes digitales Medium ist. Durch die Verflechtung von Kett- und Schussfäden arbeitet man beim Weben letztlich mit Farbpunkten, die erst in der Zusammenschau ein Bild ergeben. Heute sprächen wir von Pixeln. Und tatsächlich wurden Jacquard-Webstühle bereits zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von digitalen Datenträgern gesteuert – den Lochkarten.
Bei ihrem Besuch in einer Weberei bei Kassel stieß Kryzecki 2018 auf einen Stapel von fünfzig Jahre altem Patronenpapier aus der DDR. Dieses Papier mit einem aufgedruckten Raster diente Stoffgestaltern zum Entwurf von Textilmustern. Im Februar 2019 nahm Kryzecki das Patronenpapier nach Bethany / Connecticut mit, wo sie ein Atelierstipendium der Josef und Anni Albers Foundation erhalten hatte. Zum ersten Mal seit fast einem Jahrzehnt nahm sie dort einen Pinsel in die Hand. Und wie sie sich bei den Kugelschreiberzeichnungen auf das einfachste Mittel der Zeichnung beschränkte, die Linie, nutzte sie diesmal das einfachste Mittel der Malerei, den Pinselabdruck. Sie druckte kleine Formen in die Felder des Rasters, bestehend aus einer Geraden und einer Kurve – Kegelschnitte, ähnlich Halbkreisen. Selbst auferlegten Regeln folgend setzte Kryzecki diese Abdrucke wie Pixel in das Raster und überließ sich und die Arbeiten wie schon bei den Kugelschreiberzeichnungen dem Prozess. Und wieder zeigte dieser durch Zufälle, Abweichungen, Fehler oder die Sichtbarmachung von Strukturen eine Vielzahl von Entwicklungsmöglichkeiten auf. Nachdem Kryzecki dies erkannt hatte, ließ sie sich, zurück in Berlin, Raster auf Papier mit den Maßen 140x100cm und 190x150cm siebdrucken. In Anlehnung an das Patronenpapier, bei welchem die Eckdaten neben dem Raster verzeichnet sind, ließ Kryzecki ihren Namen neben das Gitternetz drucken und die Angaben der Entstehungsorte BETHANY / BERLIN auf die gegenüberliegende Seite.
Auf das eigens für die Künstlerin hergestellte Papier malte Caroline Kryzecki tausende von Pinselabdrucken aus Gouache und Aquarell. Hierbei arbeitete Kryzecki mit den Grundfarben Rot und Blau, jeweils in einer Vielzahl von Tönen. Durch die Kombination der Farben sowie die Veränderung von Größe und Ausrichtung des Abdrucks und des damit verbleibenden Weißraums, sowie durch die Modulation von Farbtönen und Opazität, kann Kryzecki die Arbeiten innerhalb des Rasters vielfältig variieren. Durch die Varianten innerhalb dieser Parameter ergeben sich in den fast siebentausend Feldern, wiederum unterteilt in etwa eine halbe Million kleinerer Felder, fast unbegrenzte Möglichkeiten. Die Künstlerin wählt zunächst eine von diesen Möglichkeiten, folgt einer selbst gesetzten Regel und schafft eine erste Struktur. Im Arbeitsverlauf ergeben sich dann immer wieder Situationen, die weitere künstlerische Entscheidungen oder Reaktionen auf den Prozess erfordern. Die Arbeit innerhalb des Prozesses ist dabei ein ständiges Wechselspiel intuitiver und reflexiver Schritte.
Das Repetitive und die Arbeit in Rastern lassen an die Arbeiten von Künstlerinnen wie Anni Albers, Irma Blank, Channa Horwitz oder Agnes Martin denken, ohne dass Kryzecki sich direkt auf diese bezöge. Parallelen und Inspirationsquellen sieht sie eher in der Musik; bei Komponisten wie John Cage oder Morton Feldman. Morton Feldman ließ sich für seine Kompositionen von der anatolischen Nomaden-Weberei inspirieren. Während des Webens ist bei dieser der jeweils fertige Teil nicht sichtbar, was zu Asymmetrien im fertigen Teppich führt. Diese werden jedoch nicht korrigiert. Vielmehr entscheidet der Prozess über das Werk. Wie für Feldman die Töne, sind für Kryzecki die Pinselabdrucke das Material für das Werden eines Werkes, nicht aber Bausteine einer fertigen Idee. Ein Feld abstecken, auf Grundlage von Strukturen arbeiten, Hierarchien ausschalten, sich dem Prozess anvertrauen, nichts korrigieren und auf eine fertige Idee verzichten, das sind Merkmale des Schaffens, in denen Kryzecki sich wiedererkennt.
Counting Silence hat Kryzecki ihre Ausstellung genannt. Dieser Titel lässt an die Stille der verschneiten Wälder Connecticuts denken, aber auch an das Verständnis von Silence im gleichnamigen Buch von John Cage. Cage, ein Freund von Feldman, und eine weitere wichtige Inspirationsquelle aus dem Feld der Musik. Cage erzählte oft, wie er in einem schalltoten Raum bemerkte, dass es Stille nicht gibt, weil man in einer lautlosen Umgebung den eigenen Puls und sein Nervensystem hört. Mit 4´33´´ erfand er ein Stück, das die Stille zum Thema hat, aus vermeintlicher Stille besteht, nicht komponiert ist und auf nichts verweist, sondern einfach geschieht wie der Kreislauf des Bluts im Körper. Auch die Arbeiten von Counting Silence pulsieren und verweisen auf nichts. Fast scheint es, als spüre man bei der Betrachtung den eigenen Pulsschlag: Counting Silence.
Counting Silence impliziert somit beides: Die Stille, aber auch das Numerische, den Rhythmus, die Taktung, den Ablauf von Zeit. Versenkt man sich in die Arbeiten von Counting Silence, scheint die Zeit still zu stehen. Wenn man Kryzecki nach dem Nucleus ihres Schaffens fragt, klingt es zunächst paradox, wenn sie angesichts ihrer strukturierten Vorgehensweise zuerst auf das Spielerische zu sprechen kommt. Aber auch dieser Widerspruch ist nur scheinbar, denn jedes Spiel hat Regeln. Die Beachtung dieser Regeln und die scheinbare Wiederholung des immer Gleichen beinhalten Momente der Freiheit. Auch diese Momente gilt es auszukosten. Sie sind selten. Ebenso wie die Stille und der Stillstand von Zeit. Wir sollten sie zählen. Counting Silence.
Counting Silence
Caroline Kryzecki is known for her ballpoint pen drawings that consist of thousands of overlapping lines arranged in layers or grids. For almost a decade, she played through all the possibilities: from extremely reduced monochrome works with only a few superimposed grids to drawings that almost seem like paintings. With her partly monumental works as large as 270x190cm, the artist explored physical and psychological boundaries as well as the limits of the material. Kryzecki always focuses on the working process. Ideas are born in the process and in a certain sense the works emerge from within themselves. Kryzecki sets herself rules, enters structures, and therein finds freedom.
The drawings with horizontal and vertical lines often have the appearance of textile. Kryzecki has been involved in weaving for years. Weaving is interesting for the artist because the technique of weaving is also based on grids. Two thread systems are crossed at right angles. There are further analogies, not only structurally, but also phenomenologically: some ballpoint pen drawings look digitally conceived, and weaving is an early digital medium. Through the interweaving of warp and weft threads, weaving ultimately involves working with colour dots, which produce an image when viewed together. Today we are talking about pixels. And indeed, Jacquard looms were already controlled by digital data carriers – punch cards – at the beginning of the nineteenth century.
During her visit to a weaving mill near Kassel in 2018, Kryzecki came across a stack of fifty-year-old cartridge paper from the GDR. This paper – with a printed grid – was used by fabric designers to create textile patterns. In February 2019, Kryzecki took the cartridge paper with her to Bethany / Connecticut, where she had received a studio grant from the Josef and Anni Albers Foundation. There for the first time in almost a decade, she picked up a brush. And just as she limited herself to the simplest means of drawing in ballpoint pen works, the line, this time she used the simplest means of painting, the brushstroke. She printed small shapes in the fields of the grid, consisting of a straight line and a curve – conic sections, similar to semicircles. Following self-imposed rules, Kryzecki placed these imprints like pixels in the grid, leaving herself and the works to the process. Again, this process showed a multitude of developmental possibilities through coincidences, deviations, errors or the visualization of structures. After Kryzecki recognized this, she had rasters screen-printed on paper measuring 140x100cm and 190x150cm, back in Berlin. In reference to the cartridge paper, where the key data are listed next to the grid, Kryzecki had her name and the details of the places of origin BETHANY / BERLIN printed on the paper.
Caroline Kryzecki painted thousands of brush impressions from gouache and watercolour on paper specially produced for her. She worked with the primary colours red and blue, each in a variety of tones. By combining the colours and changing the size and orientation of the print and the white space it leaves, as well as by modulating colour tones and opacity, Kryzecki can vary the works within the grid in many ways. The variations within these parameters result in seemingly unlimited possibilities. There are nearly seven thousand fields, subdivided into about half a million smaller fields. The artist first chooses one of these possibilities, follows a self-imposed rule and creates an initial structure. In the course of the work, situations then repeatedly arise that require further artistic decisions or reactions to the process. The work within the process is thereby a constant interplay of intuitive and reflexive steps.
The repetition and the work in the grids makes one think of artists such as Anni Albers, Irma Blank, Channa Horwitz or Agnes Martin, without Kryzecki referring directly to them. She finds parallels and sources of inspiration in music: composers like John Cage or Morton Feldman. Morton Feldman was inspired for his compositions by the Anatolian nomadic weaving. During weaving, the finished part is not visible, which leads to asymmetries in the finished carpet. These are not corrected, however. Rather, the process determines the work. As with Feldman the tones, for Kryzecki the brushstrokes are the material for becoming a work – not the building blocks of a finished idea. Staking out a field, working on the basis of structures, eliminating hierarchies, entrusting oneself to the process, not correcting anything and dispensing with a finished idea – these are characteristics of Kryzecki’s work in which she recognizes herself.
Kryzecki has called her exhibition Counting Silence. This title evokes the silence of the snowy forests of Connecticut, but also the understanding of silence in the book of the same title by John Cage. Cage, a friend of Feldman, is also another important source of inspiration from the field of music. Cage often said how he noticed in an anechoic room that silence does not exist because in a