Jeewi Lee

Field of Fragments, 23 November 2024 – 18 January 2025

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Kurztext
(offizieller Ausstellungstext siehe unten)

Field of Fragments

Seit Jahren beschäftigt Jeewi Lee sich künstlerisch mit Spuren, verkörperten Erinnerungen und Phänomenen der Zeit, oft verbunden mit Naturprozessen.

Vor einiger Zeit wandte Lee sich dem Bodenmaterial Sand zu. In ihrer Ausstellung Field of Fragments radikalisiert sie diesen Ansatz und zeigt eine Totalinstallation, welche die Besucherinnen makroskopisch und mikroskopisch mit jenem mineralisch-organischen Material bekannt macht, das uns allen so vertraut scheint, in Wirklichkeit aber voller Wunder ist. Lee zeigt Skulpturen und Bilder aus Sand, legt diesmal den Fokus aber auf einzelne Körner und deren erstaunlich unterschiedliche Formen.

Bei den drei großen Skulpturen auf dem Boden des Ausstellungsraums handelt es sich um ins Riesenhafte vergrößerte Sandkörner aus Mallorca, hergestellt aus Sand. Die Unterschiedlichkeit und Komplexität der Formen ist erstaunlich, denn man könnte denken, Sandkörner würden alle mehr oder weniger kugelförmig abgeschliffen. Tatsächlich aber zeigen die Körner unterschiedlichste, überraschende Formen und auch komplexe und höhlenartige Innenräume.

Die Skulpturen entstanden durch ein Scan- und Sanddruckverfahren, bei dem die Grenzen des technisch Möglichen erreicht wurden. Allein die technische Konzeption, Recherche und Herstellung dauerte über ein Jahr. Weil beim künstlerischen Prozess auch verschiedene hochkomplexe geometrische und konstruktive Aspekte beachtet werden mussten, arbeitete Jeewi Lee bei der Konzeption und Herstellung der Skulpturen mit dem Grundlagenforscher für Geometrie Phillip C. Reiner zusammen.

Auf einer Holzkiste und einer Glasplatte zeigt Lee weitere kleinere Skulpturen, deren Formen von Sandkörnern verschiedener Küstenorte der Welt stammen, so beispielsweise aus Taean-Bando in Korea, New York, Connecticut, Alentejo oder Dakar, wo die Künstlerin sie gesammelt hat.

Die Verbindung der Skulpturen mit ihrer Umgebung wird durch ein besonderes Beleuchtungskonzept verstärkt, bei dem der ganze Raum in ein warmes, rötliches Licht getaucht wird. Dessen Wärme steigert sich von der einen zur anderen Seite des Raums und verleiht diesem eine fast „wüstenhafte“ Aura. Das Beleuchtungskonzept

Warum aber wählte Jeewi Lee Sand als Thema und Material? Das Bodenmaterial Sand wird oft als belanglos betrachtet, ist jedoch eine der wichtigsten Ressourcen der Welt. Mit Sand wird Beton, Zement oder Glas hergestellt, ohne Sand also keine Straßen oder Städte. Sand wird zur Produktion von elektronischen Bauteilen genutzt, ohne Sand gäbe es keine Photovoltaik oder Microchips und keine künstliche Intelligenz. Mit Sand stellen wir Zahnpasta her, Jeans oder ganze Inseln. Jenseits dieser Nutzung durch den Menschen ist Sand aber auch ein wichtiger Speicher für Trinkwasser und ein Lebens­raum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten.

Zwar meinen wir alltagssprachlich, es gäbe einen Gegen­stand so zahlreich wie Sand am Meer. Tatsächlich ist Sand aber mittlerweile zu einer knappen Res­source geworden. Weltweit werden jedes Jahr 50.000.000.000.000 Kilogramm abgebaut, in Worten: fünfzig Milliarden Tonnen. Das entspricht vierzig Milliarden Autos. Dieser Abbau führt zu Umweltschäden, durch die ganze Landschaften und Ökosysteme zerstört werden können. Aber auch ein so zartes „Detail“ wie die Geschlechterverteilung von Schildkröten kann durch den Sandabbau aus dem Gleichgewicht gebracht werden, weil die Temperatur der Schildkrötennester beeinflusst wird und damit auch das Geschlecht der Schildkröten.

Sand besteht aus winzigen Teilen abgelagerten Gesteins. Durch tektonische Verschiebungen wird es an die Oberfläche gedrückt und einzelne Teilchen lösen sich. Diese als Körner bezeichnete Teilchen werden von Flüssen zum Meer ge­schwemmt. Wie winzige Skulpturen wird jedes Korn dabei geschliffen und geformt. An den Strand gespült, vermischt mit Kalk von Muscheln und Korallen, hat es eine Reise von tausenden Kilometern hinter sich. Manche Körner durchlaufen mehrere Zyklen der Ablagerung und Wanderung und können so bereits Milliarden Jahre alt sein, bevor wir am Strand für wenige Minuten unseren Abdruck im Sand hinterlassen.

Jedes einzelne Sandkorn trägt somit in sich unvorstellbar lange Zeitspannen, Strecken und Erinnerungen, die von Erdzeitaltern ebenso erzählen wie von Alltagskonsum, Kapitalismus und Migration. Sand ist wie eine flüssige Erde, ständig in Bewegung, immer im Fluss, bestehend aus Mineralien und Überbleibseln seiner Umgebung, jedes einzelne eine Verkörperung von Erinnerungen – “embodiment of memories”.

Die Faszination für Sand ist so alt, dass sie sich in unsere Sprache einge­schrieben hat: ein Haus ist auf Sand gebaut, ein Vorhaben verläuft im Sand. Die Zeit verrinnt uns wie Sand durch die Finger. Und mit deren Verrinnen verschwindet auch der Mensch – wie „am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ – so Foucaults berühmter Topos. Fast scheint es, als könnten wir in Field of Fragments von Jeewi Lee etwas von unserer ver­lorenen Zeit wiederfinden.

Jeewi Lee wird international ausgestellt. Sie hatte Einzelausstel­lungen in der Kunsthalle Recklinghausen und im Kunstverein in Hamburg. Ihre Arbeiten wurden gezeigt in der Bundeskunsthalle, im Gropius Bau Berlin, Kunstmuseum Wolfsburg, Museum für Gegenwartskunst Hamburger Bahnhof, Mönche­haus Museum, bei Urbane Künste Ruhr und im Kunstmu­seum Stuttgart. Lee war Stipendiatin der Villa Romana und der Josef & Anni Albers Foundation. Sie erhielt den Villa Romana Preis, den Kunstpreis „junger westen“ und 2025 wird sie Fellow sein in der Villa Aurora in Los Angeles.

 

Exhibition Text
(deutsche Fassung siehe unten)

Jeewi Lee – Field of Fragments

Ever in motion, yet connected to particular places, sand both holds geological memories in its elemental structure and calls forth referential memories through its color, feel between the fingers, and quality of grain. Today’s sands are yesterday’s mountains, coral reefs, and outcroppings of stone. Each grain possesses a geological lineage that links sand to a place and to its history, and each grain also carries a symbolic association that indexes that history.
What the Sands Remember, Vanessa Agard-Jones[1]

Dust, salt, ashes, gravel, coffee grounds, cuttlefish bones, elephant dung. Sand. Throughout her oeuvre, Jeewi Lee attends to detritus in search of embodied memories latent in their forms and aggregate behaviors. In her practice, residual matter becomes legible as an archive of past processes and possible futures. To read these subtle inscriptions, we must calibrate our senses and habits of attention to their unique physical properties and temporalities. The slow rate of erosion, the more rapid pace of biological decomposition and the near instantaneity of combustion exert different demands on our cognitive capacities. In return, they offer up incommensurate structures of narrative time, stories that unfold concurrently with human historical dramas, but remain relegated to background conditions otherwise known as the environment.

As a child of two South Korean artists growing up between Germany and Korea, Lee is drawn to matter that wanders, and sometimes finds itself ‘out of place.’ The stories embedded in matter hold up a mirror to human experiences, not only as metaphor, but also as index: footprints in the sand (BLINDER BEIFALL (Blind applause) 2016); dust swept from exhibitions, detritus shed by its visitors (GRAUWERT (Grey level) 2017 – present); the gradual erasure of the border between black and white zones of gravel (FRAKTUR (Fracture) 2018). Inscribed linoleum and Hanji Jangpan paper floor coverings bearing the marks of use have been brought to the foreground as part of Lee’s ongoing investigation into the mutual inscription of individuals and their environs, as part of a gentle but insistent call to attend to a material unconscious just beneath our feet.

Field of Fragments represents the first exhibition showcasing Lee’s efforts to think with and through sand – a material that is rife with paradoxes. Sand is one of the most abundant materials on earth. Yet, after little more than a century of glass and concrete construction, and silicon-based digital technology, it has become a scarce commodity. Indeed, sand mining is driving armed conflict and environmental degradation worldwide, as documented in the 2013 film Sand Wars. Sand is solid, but it often behaves like a liquid (as when it pours) or even as a gas (suspended aloft in sand storms). Sand is a plural noun, occurring in speech, as in the world itself, as an uncountable quantity. The Sorites paradox has puzzled philosophers since the 4th century BCE by asking how many grains must be added or subtracted in order to proceed from a single grain of sand to a heap (soros). Today, this becomes an economic question, as artificial islands and beaches eroded by rising seas are ‘nourished’ with costly transplants of sand from offshore sea beds. Meanwhile, sand dunes encroach over ever larger territories under the pressures of desertification.

A collection of paradoxical sculptures marks the conceptual coordinates of Lee’s exhibition. Each represents an individual grain of sand made of the self-same material, enlarged more than 850 times to reveal its irreducible particularity, evoking the memories latent in their curves and crevasses. Contrary to what we might imagine, sand grains are not tumbled smooth by friction over time, erasing the marks of past ecologies and geophysical processes. Rather, these features are what enable particular sand deposits, with distinctive grain shapes, mineral composition, and so forth, to form the physical, as well as digital, foundation of global infrastructures.

Carried from shore to shore, by ocean circulation currents, sand literally and figuratively represents the dialectic of universal and particular – ‘a world in a grain of sand,’ in the words of William Blake. And yet despite its intuitiveness, an enlarged grain of sand is a contradiction in terms because sand is defined, above all, by its size. Anything can become sand; today, beaches are strewn with particles of plastic and other synthetic materials that have eroded into grains within the range of approximately 0.06mm to 2.0mm. It is here that Lee’s minimalist aesthetic, featuring a consistently strict palette of naturalistic hues on the grey scale, now expanded to include the reddish, yellow and brown tones of sand, enables a flight of imagination to take place. As hyper-realistic reconstructions of sand grains, the sculptures offer a faint note of humor, relief from the mathematical sublimity bordering on horror of the Sorites paradox and the infinite task of counting. Under the pressure of the material’s own peculiar logic, they become surreal.

These sculptural forms are the result of Lee’s intensive collaboration with the geometric researcher Phillip C. Reiner, whose studio protoCtrl – advanced geometries specializes in parametric investigations of artistic concepts. Reiner’s work focuses on the development of artistic ideas based on natural phenomena that are described by mathematical and physical principles. Together, they made a careful selection of sand grains collected from different geographical locations at which Lee works, taking into account physical and poetic considerations. Then, working with specialists from Carl Zeiss Industrielle Messtechnik GmbH, the selection of 0.3 to 1 mm grains of sand were scanned using an X-ray microscope. The scans were then processed into three-dimensional computer models, which would in turn become the basis for the sculptures. This process belies any simplistic understanding of scientific imaging as a direct reading of the book of nature. The data require extensive interpretation and translation in order to be used to create a physical form. Moving across multiple registers, from physical substrate to numerical information to 2D digital visualization, Lee and Reiner worked from the scans towards a new material expression subject to both technical and aesthetic constraints. One must understand an object’s geometry in order to bring it back into a physical form at another scale, and in another material medium. This is not a process that can be automated; to 3D print the sculptures out of sand involved negotiating the technical constraints of the printers, their size and resolution (the thickness of the printed layers), the weight of the material and its binding agents. The largest sculptures were printed in several parts – fragments of fragments – and assembled into their completed forms. Their seamless mass and naturalistic color gradients reflect a combination of technical planning and handwork.

With every shift in scale and media, grains of sand exhibit different parameters of interest: size, shape, color, mineral content, hardness, microscopic residues of smaller particles, and radioisotope signatures that reflect their points of origin. One of the most distinctive features of sand is that it constantly migrates, buffeted by waves, born along on wind and ocean currents, blown upwards and then sliding down the sides of wandering dunes. Sand is distinguished from dust and gravel precisely by its movement relative to that of air: dust tends to remain airborne, whereas sand grains suspended in air are heavy enough that they eventually precipitate out into heaps. Gravel, by contrast, is too heavy to be lifted by a gust of air. Regardless of its material composition or exact size, sand is characterized above all by how it moves through the world – a movement against which its fixation in concrete appears as futile protest. In a study of efforts to forestall desertification in China, anthropologist Jerry Zee describes how sand’s dynamics reconfigure political time, “Sand renders time into recursions. Remembering through sand in this way also constitutes a foretelling. As a material that moves, accretes, holds momentarily steady, or tends to dissolution, it draws together past and future burials.”[2] As in an hourglass, to stop sand is to stop time. Its temporary fixation in architecture, or sculpture, represents a snap-shot on sand’s ineluctable journey.

Lee began the series Field of Fragments during a residency in Portugal in 2022, where she first developed techniques for using sand as a medium of painting. The present exhibition includes paintings made from sand gathered from the West Coast of South Korea; Dakar, Senegal; New York City and Connecticut, USA, Alentejo, Portugal; and Mallorca, Spain. Each painting captures the color palette of the coastal landscapes from which they originate. “As if they were pigments,” explains curator Lydia Korndörfer, “the artist creates color fields or gradients with grains of sediment she has collected herself in homage to the works of the Korean art movement called Dansaekhwa (‘monochrome painting’), which reached its peak in the 1970s as a subversive, artistic response to the political crisis that had followed the Korean War.” In aesthetic form as well as material content, the paintings embody sand’s political contradictions: at once a sensuous multitude and a blank slate for projection. The fields recall the ancient technology of the sand table, still used today to map out war games and strategies, as well as for other educational purposes. It is no coincidence that today desert regions of the Middle East are among the most heavily militarised in the world. In this geopolitical context, sandy landscapes figure as training grounds for ongoing conflicts over oil and gas. “As we militarize certain elements, like sand, marking a sandy landscape as a stage for warfare, we also occupy the imagination that takes this landscape as inspiration.”[3] Ironically, desert sand is too round and smooth to be used in construction, and too light to stay put on beaches swept by wind and waves. Conjuring memories and fantasies, Lee’s gradients draw out reflection on sand’s restless meanings.

It will not escape notice that these themes recur in Lee’s works, including her 2018 installation at Sexauer Gallery titled Inzision, for which 14 tons of black and white gravel were used to divide the gallery floor along a straight line. The installation is a metaphor for the 38th parallel, the original border between North and South Korea – a scar of Korea’s unresolved tragic history of division. The installation takes on new significance considered in light of certain reflections by Robert Smithson, written over half a century ago. A tour of the prosaic town of Passaic New Jersey leads to his nomination of a series of real and imaginary ‘monuments’. Rather than standing out from their context, these sites and objects exhibit ongoing processes to which they are subject over time.

The last monument was a sand box or a model desert. Under the dead light of the Passaic afternoon the desert became a map of infinite disintegration and forgetfulness. This monument of minute particles blazed under a bleakly glowing sun, and suggested the sullen dissolution of entire continents, the drying up of oceans – no longer were there green forests and high mountains – all that existed were millions of grains of sand, a vast deposit of bones and stones pulverized into dust. Every grain of sand was a dead metaphor that equaled timelessness, through the false mirror of eternity …

I should now like to prove the irreversibility of eternity by using a jejune experiment for proving entropy. Picture in your mind’s eye the sand box divided in half with black sand on one side and white sand on the other. We take a child and have him run hundreds of times clockwise in the box until the sand gets mixed and begins to turn grey; after that we have him run anti-clockwise, but the result will not be a restoration of the original division but a greater degree of greyness and an increase of entropy.
Robert Smithson, A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey[4]

In this thought experiment in a sandbox, the monochrome condition may stand for reunification and forgetting at once. And yet, as Lee’s Inzision demonstrates, the material and geographical specificity of the ground on which the experiment is performed makes all the difference in mediating the pace of entropy. For the real experiment takes place on political time.

Dehlia Hannah

[1] Vanessa Agard-Jones (2012): “What the Sands Remember.” GLQ 18, nos. 2–3: 325–46. (326)
[2] Jerry Zee (2017): “Holding Patterns: Sand and Political Time at China’s Desert Shores.” CULTURAL ANTHROPOLOGY 32(2): 215–241. (216)
[3] Nadine Hattom (2023): ‘Great Sand: Grains of Occupation and Rep- resentation’, in War-torn Ecologies, An-Archic Fragments: Reflections from the Middle East, ed. by Umut Yıldırım, Cultural Inquiry 27 (Berlin: ICI Berlin Press), pp. 105–20.
[4] Smithson, Robert (1967): “A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey.” Originally published as “The Monuments of Passaic.” Artforum 6 (4. December).

 

Jeewi Lee – Field of Fragments

Stets in Bewegung und doch verbunden mit spezifischen Orten, birgt Sand geologische Erinnerungen in seiner elementaren Struktur und ruft gleichzeitig durch seine Farbe, die Haptik zwischen den Fingern und die Beschaffenheit seiner Körnung referenzielle Erinnerungen wach. Der Sand von heute war einst Berge, Korallenriffe und Felsformationen. Jedes Korn hat eine geologische Abstammung, die Sand mit einem Ort und dessen Geschichte verbindet, und zugleich trägt jedes Korn eine symbolische Assoziation, die diese Geschichte indiziert.
What the Sands Remember, Vanessa Agard-Jones[1]

Staub, Salz, Asche, Kies, Kaffeesatz, Schulpen, Elefantendung. Sand. Jeewi Lee widmet sich in ihren Arbeiten Überbleibseln, in deren Formen und Aggregatzuständen verkörperte Erinnerungen verborgen liegen, die Lee aufspürt und offenlegt. Mit ihrer Praxis werden Rückstände als Archiv vergangener Prozesse und potenzieller Zukünfte lesbar. Um diese subtilen Einschreibungen zu entziffern, müssen wir unsere Sinne und Aufmerksamkeitsgewohnheiten auf ihre einzigartigen physischen Eigenschaften und Zeitlichkeiten einstellen. Langsame Erosionsraten, das schnellere Tempo biologischer Zersetzung und die nahezu sofortige Wirkung von Verbrennung stellen unterschiedliche Anforderungen an unsere kognitiven Fähigkeiten. Im Gegenzug bieten diese Einschreibungen inkommensurable Strukturen narrativer Zeit – Geschichten, die parallel zu den Dramen der Menschheitsgeschichte verlaufen, jedoch oft als Hintergrundbedingungen abgetan werden, auch bekannt als „Umwelt“.

Als Tochter zweier südkoreanischer Künstler*innen, die zwischen Deutschland und Korea aufwuchs, fühlt sich Lee von Materie angezogen, die wandert und sich manchmal „nicht am richtigen Platz“ befindet. Die Geschichten, die in dieser Materie eingebettet sind, spiegeln menschliche Erfahrungen wider – nicht nur als Metapher, sondern auch als Index: Fußspuren im Sand (BLINDER BEIFALL, 2016); Staub, der aus Ausstellungen zusammengefegt wurde, Überreste, die von den Besucher*innen stammen (GRAUWERT, 2017 bis heute); das allmähliche Verschwinden der Grenze zwischen schwarzen und weißen Kieszonen (FRAKTUR, 2018). Linoleum- und Hanji-Jangpan Papier-Bodenbeläge, die Gebrauchsspuren tragen, treten in den Vordergrund und sind Teil von Lees fortlaufender Untersuchung der wechselseitigen Einschreibung von Individuen und ihrer Umgebung – als Teil einer sanften, aber beharrlichen Aufforderung, ein materielles Unbewusstes wahrzunehmen, das sich direkt unter unseren Füßen befindet.

Field of Fragments ist die erste Ausstellung, die Lees Auseinandersetzung mit Sand zeigt – einem Material voller Paradoxien. Sand ist eines der am häufigsten vorkommenden Materialien der Erde. Doch nach etwas mehr als einem Jahrhundert des Bauens mit Glas und Beton sowie digitaler Technologien, für die Silizium verwendet wird, ist Sand zu einer knappen Ressource geworden. Sandabbau führt weltweit zu bewaffneten Konflikten und Umweltzerstörungen, wie der Film Sand Wars (2013) dokumentiert. Sand ist fest, verhält sich jedoch oft wie eine Flüssigkeit (wenn er gegossen wird) oder sogar wie ein Gas (in Sandstürmen schwebend). Sand ist ein Pluralwort, das in der Sprache und in der Welt selbst als unzählbare Menge vorkommt. Das Sorites-Paradoxon beschäftigt Philosoph*innen seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. mit der Frage, wie viele Körner hinzugefügt oder entfernt werden müssen, um von einem einzelnen Sandkorn zu einem Haufen (soros) zu gelangen. Heute wird dies zu einer wirtschaftlichen Frage, da künstliche Inseln und Strände, die durch steigende Meere erodieren, mit kostspieligen Sandaufschüttungen aus Offshore-Meeresböden „genährt“ werden. Gleichzeitig breiten sich Sanddünen unter dem Druck der Desertifikation über immer größere Gebiete aus.

Eine Sammlung paradoxaler Skulpturen markiert die konzeptionellen Koordinaten von Lees Ausstellung. Jede repräsentiert ein einzelnes Sandkorn aus eben diesem Material, mehr als 850-fach vergrößert, um dessen unwiderlegbare Einzigartigkeit zu enthüllen und Erinnerungen wachzurufen, die in seinen Kurven und Kluften verborgen liegen. Entgegen der allgemeinen Vorstellung werden Sandkörner durch Reibung im Laufe der Zeit nicht glattgeschliffen, wodurch die Spuren vergangener Ökosysteme und geophysikalischer Prozesse ausgelöscht würden. Vielmehr entstehen durch diese Merkmale bestimmte Sandvorkommen mit charakteristischen Kornformen, mineralischen Zusammensetzungen und anderen Eigenschaften, die die physische und dann auch digitale Grundlage globaler Infrastrukturen bilden.

Durch ozeanische Strömungen von Küste zu Küste getragen, repräsentiert Sand buchstäblich und bildlich die Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen – „eine Welt in einem Sandkorn“, in den Worten William Blakes. Und auch wenn es intuitiv ist, ist ein vergrößertes Sandkorn doch ein Widerspruch in sich, da Sand vor allem durch seine Größe definiert ist. Alles kann zu Sand werden; heute sind Strände übersät mit Plastikteilen und anderen synthetischen Materialien, die in Körner von etwa 0,06 mm bis 2,0 mm erodiert sind. Hier ermöglicht Lees minimalistische Ästhetik, die konsequent auf einer strengen Palette aus natürlichen Grautönen beruht und nun um die rötlichen, gelben und braunen Sandtöne erweitert wurde, einen Fantasie-Flug. Als hyperrealistische Rekonstruktionen von Sandkörnern bieten die Skulpturen einen Hauch von Humor – eine Erleichterung angesichts der mathematischen Erhabenheit, die an das Grauen des Sorites-Paradoxons und die unendliche Aufgabe des Zählens grenzt. Unter dem Druck der Eigenlogik des Materials werden sie surreal.

Diese Skulpturen sind das Ergebnis von Lees intensiver Zusammenarbeit mit dem Geometrieforscher Phillip C. Reiner, dessen Studio protoCtrl – advanced geometries sich auf parametrische Untersuchungen künstlerischer Konzepte spezialisiert hat. Reiners Arbeit konzentriert sich auf die Entwicklung künstlerischer Ideen, die auf natürlichen Phänomenen beruhen, die durch mathematische und physikalische Prinzipien beschrieben werden. Gemeinsam wählten sie unter Berücksichtigung formaler und poetischer Aspekte Sandkörner von verschiedenen Orten aus, an denen Lee arbeitet. In Zusammenarbeit mit Spezialist*innen der Carl Zeiss Industrielle Messtechnik GmbH wurden die von Lee und Reiner ausgewählten Körner (0,3 bis 1 mm groß) mithilfe eines Röntgenmikroskops gescannt. Die Scans wurden zu dreidimensionalen Computermodellen verarbeitet, die wiederum die Grundlage für die Skulpturen bildeten.

Dieser Prozess widerlegt jegliche vereinfachte Vorstellung wissenschaftlicher Bildgebung als direkte „Lesung des Buches der Natur“. Die Daten mussten umfassend interpretiert und übersetzt werden, um für die Erstellung einer physischen Form nutzbar zu sein. Über verschiedene Ebenen hinweg – vom physischen Substrat über numerische Informationen bis hin zur digitalen 2D-Visualisierung – erarbeiteten Lee und Reiner von den Scans ausgehend eine neue materielle Ausdrucksform, die sowohl technischen Grenzen als auch ästhetischen Ansprüchen unterliegt. Man muss die Geometrie eines Objekts verstehen, um es in einem anderen Maßstab und in einem Medium mit anderem Material wieder in eine physische Form zu bringen. Solch ein Prozess kann nicht automatisiert werden. Um die Skulpturen aus Sand im 3D-Druck zu fertigen, mussten die technischen Grenzen der Drucker, deren Größe und Auflösung (Schichtdicke), sowie das Gewicht des Materials und seiner Bindemittel berücksichtigt werden. Die größten Skulpturen wurden in mehreren Teilen gedruckt – Fragmente von Fragmenten – und zu ihrer endgültigen Form zusammengefügt. Ihre nahtlose Masse und ihre natürlichen Farbverläufe sind Ergebnis einer Kombination aus technischer Planung und Handarbeit.

Mit jedem Wechsel von Maßstab und Medium weisen Sandkörner unterschiedliche, je für sich interessante Parameter auf: Größe, Form, Farbe, Mineralgehalt, Härte, mikroskopische Rückstände kleinerer Partikel und radio-isotopische Signaturen, die die Herkunftsorte der Körner widerspiegeln. Für Sand am charakteristischsten ist, dass er ständig migriert, angetrieben von Wellen, getragen von Wind und ozeanischen Strömungen, aufgewirbelt und dann an den Hängen von Wanderdünen herabrutschend. Sand unterscheidet sich von Staub und Kies durch eben jene Bewegung in Relation zur Luft: Staub bleibt oft in der Luft, während Sandkörner, die in der Luft schweben, schwer genug sind, um schließlich zu Boden zu fallen und sich anzuhäufen. Kies hingegen ist zu schwer, um von einem Luftstoß erfasst zu werden. Unabhängig von seiner materiellen Beschaffenheit oder genauen Größe zeichnet sich Sand vor allem durch seine Bewegung in der Welt aus – eine Bewegung, gegen die seine Fixierung in Beton wie ein vergeblicher Protest erscheint.

In einer Untersuchung über die Bemühungen zur Verhinderung der Desertifikation in China beschreibt der Anthropologe Jerry Zee, wie die Dynamik des Sandes die politische Zeit umformt: „Sand überträgt Zeit in Rekursionen. Sich durch Sand zu erinnern, bedeutet zugleich, vorherzusagen. Als ein Material, das sich bewegt, anlagert, momenthaft verharrt oder zur Auflösung neigt, vereint es vergangene und zukünftige Begräbnisse.“[2] Wie in einer Sanduhr bedeutet das Stoppen von Sand, die Zeit anzuhalten. Seine temporäre Fixierung in Architektur oder Skulptur stellt eine Momentaufnahme auf seiner unausweichlichen Reise dar.

Lee begann ihre Serie Field of Fragments während eines Aufenthalts in Portugal im Jahr 2022, wo sie erstmals Techniken entwickelte, um Sand als Medium für Malerei zu nutzen. Die aktuelle Ausstellung umfasst Bilder aus Sand, der an verschiedenen Orten gesammelt wurde, darunter die Westküste Südkoreas; Dakar, Senegal; New York City und Connecticut, USA; Alentejo, Portugal; und Mallorca, Spanien. Jede Arbeit fängt die Farbpalette der Küstenlandschaften ein, aus denen der Sand stammt. „Wie Pigmente“, erklärt Kuratorin Lydia Korndörfer, „erschafft die Künstlerin Farbflächen oder Farbverläufe mit selbst gesammelten Sedimentkörnern, als Hommage an die Werke der koreanischen Kunstbewegung Dansaekhwa („monochrome Malerei“), die in den 1970er-Jahren ihren Höhepunkt als subversive, künstlerische Antwort auf die politische Krise nach dem Koreakrieg erreichte.“ Sowohl in ihrer ästhetischen Form als auch in ihrem materiellem Inhalt verkörpern die Bilder die politischen Widersprüche des Sandes: sinnliche Vielheit und zugleich leere Projektionsfläche. Die „Felder“ erinnern an die antike Technologie des Sandkastens, die bis heute für militärische Planspiele und Strategieentwicklung sowie zu Bildungszwecken genutzt wird. Es ist kein Zufall, dass Wüstenregionen im Nahen Ostens heute zu den am stärksten militarisierten Gebieten der Welt zählen. In diesem geopolitischen Kontext fungieren sandige Landschaften als Übungsplätze für anhaltende Konflikte um Öl und Gas. „Indem wir bestimmte Elemente wie Sand militarisieren und sandige Landschaften als Bühne für Kriegsgeschehen markieren, besetzen wir auch die Vorstellungskraft, die von diesen Landschaften inspiriert ist.“[3] Ironischerweise ist Wüstensand zu rund und glatt, um im Bau verwendet zu werden, und zu leicht, um an von Wind und Wellen gepeitschten Stränden zu verbleiben. Indem sie Erinnerungen und Fantasien wachrufen, ziehen Lees Farbverläufe auch Reflexionen über die rastlosen Bedeutungen des Sandes mit sich.

Es wird nicht unbemerkt bleiben, dass sich diese Themen auch in Lees früheren Arbeiten wiederfinden, etwa in ihrer Installation Inzision (2018) in der Sexauer Gallery, für die 14 Tonnen schwarzer und weißer Kies verwendet wurden, um den Galerieboden entlang einer geraden Linie zu teilen. Die Installation ist eine Metapher für den 38. Breitengrad, die ursprüngliche Grenze zwischen Nord- und Südkorea – eine Narbe der ungelösten, tragischen Geschichte der Teilung Koreas. Die Arbeit gewinnt vor dem Hintergrund einiger Überlegungen des Künstlers Robert Smithson, die vor über 50 Jahren verfasst wurden, eine neue Bedeutung. Während einer Tour durch die prosaische Stadt Passaic, New Jersey, nominierte Smithson eine Reihe realer und imaginärer „Monumente“. Diese Orte und Objekte heben sich nicht von ihrem Kontext ab, sondern zeigen kontinuierliche Prozesse, denen sie im Laufe der Zeit unterworfen sind.

Das letzte Monument war ein Sandkasten oder eine Modellwüste. Unter dem toten Licht des Passaic’schen Nachmittags wurde die Wüste zu einer Karte unendlichen Verfalls und von Vergessenheit. Dieses Monument aus winzigen Partikeln flackerte unter einer trüb glühenden Sonne und deutete die finstere Auflösung ganzer Kontinente an, das Austrocknen von Ozeanen – es gab keine grünen Wälder und hohen Berge mehr; alles, was existierte, waren Millionen von Sandkörnern, ein riesiges Depot aus zu Staub pulverisierten Knochen und Steinen. Jedes Sandkorn war eine tote Metapher, die Zeitlosigkeit gleichkam, durch den falschen Spiegel der Ewigkeit …

Ich möchte nun die Irreversibilität der Ewigkeit beweisen, indem ich ein simples Experiment zur Demonstration von Entropie verwende. Stellen Sie sich in Ihrem geistigen Auge einen Sandkasten vor, der in zwei Hälften geteilt ist, mit schwarzem Sand auf der einen und weißem Sand auf der anderen Seite. Wir nehmen ein Kind und lassen es hunderte Male im Uhrzeigersinn im Sandkasten laufen, bis der Sand sich vermischt und beginnt, grau zu werden; danach lassen wir es gegen den Uhrzeigersinn laufen, aber das Ergebnis wird keine Wiederherstellung der ursprünglichen Teilung sein, sondern ein größerer Grad an Grauwert und eine Zunahme der Entropie.
Robert Smithson, A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey[4]

In diesem Gedankenexperiment im Sandkasten könnte der monochrome Zustand zugleich für Wiedervereinigung und Vergessen stehen. Und doch zeigt Lees Inzision, dass die materielle und geografische Spezifität des Bodens, auf dem das Experiment durchgeführt wird, den entscheidenden Unterschied macht, da sie das Tempo der Entropie beeinflusst. Denn das eigentliche Experiment findet in der politischen Zeit statt.

Dehlia Hannah

[1] Vanessa Agard-Jones (2012): “What the Sands Remember.” GLQ 18(2–3), S. 325–346, hier S. 326.
[2] Jerry Zee (2017): “Holding Patterns: Sand and Political Time at China’s Desert Shores.” CULTURAL ANTHROPOLOGY 32(2), S. 215–241, hier S. 216.
[3] Nadine Hattom (2023): “Great Sand: Grains of Occupation and Representation”, in War-torn Ecologies, An-Archic Fragments: Reflections from the Middle East, hrsg. von Umut Yıldırım, Cultural Inquiry 27, S. 105–120. Berlin: ICI Berlin Press.
[4] Smithson, Robert (1967): “A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey.” Zuerst erschienen unter dem Titel: “The Monuments of Passaic.” Artforum 6 (4. Dezember).